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Die „bairische Bierreise nach Thüringen“
Der Deutsche Krieg von 1866 im Raum Suhl



Das Neue Schloss zu Schleißheim
Von der fürstlichen Eremitage zum Galerieschloss



Die „bairische Bierreise nach Thüringen“
Der Deutsche Krieg von 1866 im Raum Suhl


Der Krieg von 1866 beendete das seit den Zeiten Friedrichs des Großen mal mehr, mal weniger heftige Ringen um die Vorherrschaft im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation bzw., nach dessen Auflösung am 6. August 1806, dem Deutschen Bund, jenem losen Verbund souveräner deutscher Einzelstaaten. Binnen weniger Wochen katapultierte das relativ junge Preußen, erst seit 1701 ein Königreich von eigenen Gnaden, unter der politischen Führung seines Kanzlers Otto von Bismarck einerseits sowie unter der militärischen Ägide des damaligen, bis dato noch schwer unterschätzten Generalstabschefs Helmut von Moltke („dem Älteren“) andererseits das in Jahrhunderten gewachsene Habsburgerreich als bisherige Führungsmacht von der politischen Bühne Mitteleuropas. Zwar besiegte der Vielvölkerstaat in einem Parallelkrieg die italienischen Streitkräfte militärisch, aber das Herabsinken zu einer europäischen Mittelmacht in der Folge der Entscheidungsschlacht bei Königgrätz (im heutigen Tschechien) konnten weder die bravourös geschlagene Schlacht vor der Adria-Insel Lissa noch der österreichische Sieg von Custozza (bei Verona) verhindern. Das weltgeschichtlich bedeutsame Ergebnis dieses Krieges besiegelte damit die sog. „kleindeutsche“ Lösung mit Preußen als der neuen Großmacht in Zentraleuropa.

 

Politisch betrachtet war dieser Krieg der letzte „Kabinettskrieg“, ein Begriff, der eigentlich die dynastische Kriegführung des 18. Jahrhunderts kennzeichnet und mit den neuartigen Volkskriegen im Zuge der Französischen Revolution bzw. mit den Napoleonischen Kriegen überholt schien, mit Bismarck aber eine kurze Renaissance erfuhr. Auf der strategischen Ebene suchte Preußen auf zwei verschiedenen Kriegsschauplätzen zusammen mit 17 weiteren norddeutschen Staaten die militärische Entscheidung über die Streitkräfte der überwiegend südlichen Staaten unter der Führung Österreichs, darunter Bayern, Württemberg, Sachsen, aber auch Hannover. Auf der operativen Ebene glückte Moltke gegenüber seinem Hauptgegenspieler, dem Österreicher Benedek, das, was man unter dem Schlagwort „getrennt marschieren - vereint schlagen“ versteht. Und schließlich taktisch: Das Zündnadelgewehr der Preußen, von hinten zu laden und viermal so schnell feuernd, triumphierte über die Podewils-Vorderlader der verbündeten „Südstaaten“ (die preußische Artillerie indes wurde von den Österreichern klar deklassiert!). Die Bevölkerung aber war entsetzt über diesen Krieg, einen Bürgerkrieg, wie sie meinte, eine Tragödie unter Deutschen, des Kulturstaates Deutschland nicht würdig. So viel zum Hintergrund dieses Krieges, dessen westlichen, damit auch thüringischen, Ableger Theodor Fontane in seinem dreibändigen Werk „Der Krieg von 1866“ als „bairische Bierreise“ bezeichnet.

 

Was aber, und damit sind wir endlich beim Thema, war die Rolle der alten Waffenstadt Suhl in diesem Orlog? Während die historisch-strategische Entscheidung auf dem böhmischen Kriegsschauplatz fiel, kam es auch in den deutschen Kernlanden zu heftigen und nicht weniger blutigen Gefechten. Dem Operationsplan der Verbündeten zufolge sollte sich das VII. Bundeskorps - de facto die bayerische Armee unter dem Wittelsbacherprinzen Karl von Bayern - von Süden her anrückend mit dem VIII. Bundeskorps des Prinzen Alexander von Hessen aus Norden im Fuldatal vereinigen und so die Preußen einschließen. Die Eigenwilligkeit der Mittelstaaten, vor allem das zögerliche, wenig entschlossene Vorgehen der Hannoveraner verhinderten indes letztlich jede - ohnehin nicht besonders originelle - größere operative Konzeption. Den Preußen, geschickt geführt von ihrem Oberbefehlshaber Vogel von Falckenstein, war es mittlerweile jedoch gelungen, wenn auch zunächst unter Schwierigkeiten, die hannoveranischen Truppen unter ihrem General von Arendtschild bei (Bad) Langensalza festzunageln - Entsatz tat not! Bis dieser jedoch überhaupt hätte wirksam werden können, kesselten die mittlerweile auf ca. 40.000 Mann angewachsenen Preußen die 20.500 Soldaten Arendtschilds endgültig ein und zwangen sie am 29. Juni 1866 zur Kapitulation. Die Verluste: 850 Gefallene und Verwundete auf Seiten der Preußen, 1.430 seitens Hannovers. Was nun folgte, ging in die (Militär-) Geschichte dieses Krieges als „Mainfeldzug“ ein: der weitere Vorstoß Preußens nach Süden, um den nächsten Gegner, jetzt die Bayern, aus dem Weg zu räumen.

 

Die knapp 100.000 Mann starke bayerische Armee (vier Divisionen zu je zwei Brigaden) war bis zum 20. Juni im Raum Bamberg aufmarschiert - und wartete, fünf lange Tage! Nach etlichem Hin und Her aufgrund widersprüchlicher oder auch ausbleibender Meldungen hinsichtlich der Armee Hannovers verlegten die Bayern schließlich nach Schweinfurt, um von dort aus über Suhl, Ohrdruf und Gotha die eingeschlossenen Hannoveraner zu entsetzen. Am 28. rückte das VII. Bundeskorps dazu nordwärts ab - indes: Enthusiasmus, Engagement und Sympathien der Bayern für ihre Bundes-Kameraden jenseits des Weißwurstäquators hielten sich in überschaubaren Grenzen. Vier Tage, vom 28. Juni bis zum 1. Juli 1866,  währte die Invasion der bayerischen Armee in Südthüringen, denn noch wußte man ja noch nichts von der Niederlage und Kapitulation Hannovers bei Langensalza. Selbst gemessen an den Maßstäben, die man damals an ein reguläres Heer stellte, verlief die Besetzung von Meiningen (hier auch das neue bayerische Hauptquartier), Wasungen, Hildburghausen, Themar und vielen weiteren Ortschaften des damaligen Kreises Schleusingen im Verlauf des 29. Juni recht ungeordnet. Bereits in Mellrichstadt war es zu erheblichen Verkehrsstaus gekommen. Der Vormarsch „stockte; alles war von Truppen und Fuhrwerken vollgepfropft. Verpflegungscolonnen mußten sechs Stunden seitwärts der Chaussee warten, eh sie den Weg fortsetzen konnten. Weil für Cantonnierung [Unterkunft] nicht vorgesehen war, drängte sich alles in den der Straße zunächst liegenden Dörfern zusammen, wo es zu den größten Verwirrungen kam. Der Gedanke konnte angesichts dieses selbstverschuldeten Chaos kaum ausbleiben, daß diese Schwerfälligkeit unfähig sei zum Siege zu führen.“  In Schmiedefeld, das von der Besetzung verschont bleiben sollte, hatte ein umsichtiger Landrat namens Herold, zugleich auch der höchste Beamte in Schleusingen, gemäß einer entsprechenden königlich-preußischen Dienstvorschrift die Gelder aller staatlichen Kassen rechtzeitig vor dem Einmarsch der Bayern nach Erfurt und Magdeburg in Sicherheit bringen lassen. Darüber hinaus hielt er die Regierungsstellen in Berlin und Erfurt ständig über die bayerischen Truppenbewegungen auf dem Laufenden.

 

Noch am Abend des 29. Juni, ein Freitag, besetzten Teile der 1. Division des I. bayerischen Armeekorps - 24 Bataillone, 144 Kompanien Infanterie, 20 Eskadrons Kavallerie und 60 Artilleriegeschütze - Schleusingen; hier richtete sich auch das Generalkommando des I. BAK ein. Ab dem nächsten Morgen folgten Steinbach, Breitenbach, Benshausen und schließlich, gegen 10.00 Uhr vormittags, Suhl. Oder anders ausgedrückt: Unter der Führung von sechs Generälen fielen an jenem Wochenende insgesamt 572 Offiziere, 1.569 Unteroffiziere und exakt 26.914 Mannschaften mitsamt ihren 3.619 Dienstpferden in Südthüringen ein, davon ein Detachement von 30 Offizieren und 1.108 Mannschaften in Suhl. Am Nordrand der Stadt, angelehnt an die 1863 gegründete „Eisengießerei und Maschinenfabrik Schilling & Krämer“ (heute befindet sich hier schräg gegenüber das „Henneberger Haus“) wurde ein Feldposten, also eine kampfkräftige Gefechtssicherung, eingerichtet. Etwa entlang einer Linie von den „Toten Männern“ über Struth nach Lauter sicherten Doppel- und Alarmposten die okkupierte Stadt; Spähtrupps klärten die Umgebung auf, eine Kavalleriepatrouille fühlte im Zuge dieser Maßnahmen schließlich bis Zella-Mehlis vor . Aber auch die Ortschaften um Suhl wurden besetzt: In Altendambach biwakierten beispielsweise 422, in Dietzhausen 710, in Dillstädt 994, in Erlau 509, in Wichtshausen 1.003 oder in Kloster Veßra 25 Bayern .

 

Uns interessiert jedoch hier mehr die kurze Zeit der bayerischen Besetzung Suhls, der die Suhler zunächst recht neutral entgegenblickten: Nicht wenige von ihnen, Jüngere in erster Linie, waren den Neuankömmlingen vor lauter Neugier sogar bis Hirschbach entgegengeeilt. Das alte Rathaus und das damalige Postamt wurden als die strategisch wichtigsten Gebäude einer Stadt natürlich als erste besetzt. Zur Orientierung für uns Heutige: Das Postamt in der Poststraße Nr. 9 (später übrigens der Herstellungsort der ehemaligen „Suhler Zeitung“) stand an einer heute nicht mehr existierenden Straße zwischen dem „Sporthaus Kick“ und der Friedrich-Königstraße. Auf dem Marktplatz fuhr als ultima ratio im Falle von Widerstand aus den Reihen der Einwohnerschaft eine leichte Sechspfünder-Batterie auf und ging in Stellung. Ysenburg selbst bezog gegenüber dem Rathaus in einem der besten Restaurants Suhls jener Tage Quartier, im „Deutschen Haus“ (an dieser Stelle entstand später das Kaufhaus „Konsum“ bzw. der HO-Sitz, heute „K&L Ruppert“).

 

Die Suhler nahmen die bayerischen Soldaten zunächst recht wohlwollend auf, bisweilen entwickelte sich in kurzer Zeit sogar ein „so herzliches Verhältnis, daß der Abschied [zwei Tage später] in vielen Fällen sehr schwer gefallen sein soll. Andererseits wird auch `gemunkelt´, daß einige Suhler Büchsenmacher so freundschaftlich gewesen wären, dafür Sorge zu tragen, daß den Bayern ihre Schußwaffen nicht so schnell losgehen konnten.“ Dennoch herrschte auch in dieser Zeit der Herrschaft der Kriegsgöttin Bellona nicht eitel Sonnenschein, auch dieser Krieg war eben ein Krieg mit all seinen Begleiterscheinungen bzw. „Kollateralschäden“. Aber seien wir objektiv und neutral und versetzen uns auch einmal in die Situation der bajuwarischen Invasoren: Es war Sommer, also heiß; man war tagelang marschiert, schleppte sein M/58-Vorderladergewehr samt Munition (ca. 6 kg) sowie den „Affen“, den etwa 20 kg schweren Soldatentornister auf dem Rücken sowie weitere Ausrüstung - man schwitzte demzufolge „wia´d Sau“; obendrein befand man sich als Sieger in Feindesland, zumindest definierte die bayerische Politik den Schleusinger Kreis als ein solches. Andererseits fühlten sich die Soldaten nach der Kapitulation der zwar nicht sonderlich beliebten Verbündeten aus Hannover (liegt bekanntlich unendlich weit nördlich des Weißwurstäquators!!) doch irgendwie in ihrer Soldatenehre gekränkt. Ferner war es um die Disziplin in der bayerischen Armee jener Tage vor den Pranckh´schen Heeresreformen nicht zum besten bestellt. Hinzu kam, daß die bayerische Militärverwaltung hohe Requisitionen an Brot, Fleisch und Fourage (Heu, Hafer, Klee, Stroh usw.) durchzusetzen gedachte, die die Bevölkerung weder aufbringen konnte noch verständlicherweise wollte. Alles in allem: Die wackeren Krieger aus dem Land der Wittelsbacher hatten „an g´scheid´n Durschd“. Nicht wenige Bayern schritten daher zur Selbstbedienung. Insgesamt nahm es also wenig Wunder, daß, wie es der Magdeburger Archivar Stoll formulierte, „das Benehmen der einquartierten Mannschaften, mit denen man anfangs sehr zufrieden war, zuletzt zu manchen Klagen Anlaß [gab], indem man sich bayerischerseits hier und da Tätlichkeiten und Eingriffe in das Privat-Eigentum erlaubte.“ Und weiterzulesen bei Theodor Fontane: „Man begann mit einem Bierkrawall, trank in dritthalb Tagen 1500 Eimer Bier, sang im Chorus

 

                                      ach, wenn das die Preußen wüßten
                                      daß sie morgen sterben müßten [...].“

 

Als aber noch am 30. Juni königlich hannoversche Offiziere die bittere Nachricht von der Niederlage ihrer Truppen bei Langensalza nach Schleusingen überbrachten und obendrein die Meldung eintraf, daß die Verbände Vogels von Falckenstein aus Eisenach anrückten, fiel der ganze schöne Entsatzplan in sich zusammen. Bereits am nächsten Tag (Sonntag, 1. Juli 1866) marschierten die Bayern wieder ab, jedoch nicht, wie es operativ klug gewesen wäre, südwestwärts. Stattdessen wandte man sich nach Westen, forcierte die Werra und schlug sich bei Dermbach, Wiesenthal, Neidhardtshausen und schließlich bei Immelborn mit dem Feind aus dem Norden. Ihre herzliche Abneigung gegenüber den Preußen ließ die bayerischen Soldaten den Kampf regelrecht suchen, coute qu´il coute, quasi ein innerer Drang. Ab dem 2. Juli bereits war Suhl also wieder feindfrei und konnte die Bilanz dieser „Bierreise“ ziehen. Der wackere Landrat machte sich an die mühselige Arbeit der Schadensregulierung und meldete bereits am 30. Juli an seinen Vorgesetzten in Magdeburg, den „Herrn Oberpräsidenten“, beschwichtigend-abwiegelnd, daß der glücklicherweise nur kurze Krieg in Südthüringen die dortige Bevölkerung knapp 10.000 Taler gekostet hatte; die Belastung für Suhl betrug exakt 683 Taler, 12 Groschen und 6 Pfennig . Allerdings hatte sich Landrat Herold etwas verschätzt. Die endgültige, so vom Finanzministerium festgelegte Schadensbilanz für den Kreis Schleusingen belief sich auf 12.367 Taler, 18 Groschen, 6 Pfennig , errechnet auf der Grundlage der Quittungen, die die Betroffenen sich von den Bayern für die requirierten Güter hatten ausstellen lassen und die sie nun dem Ministerium bzw. den ministeriellen Schadensregulieren vor Ort vorlegen mußten. Suhl waren folgende Kosten entstanden: 368 Taler und 15 Groschen für die Einquartierung von 1.105 Unteroffiziere und Mannschaften, 30 Taler für Kost und Logis von 30 Offizieren und  23 Taler für Fourage. An Sonderposten listete Herold an weiteren Belastungen u.a. auf: Unterbringung Ysenburgs 3 Taler (einschließlich Fourage), beim Fuhrmann Schlegelmilch eingestellte Pferde 24 Groschen, 690 Brote für insgesamt 115 Taler, alles „amtlich bescheinigt, Suhl, den 7. Aug. 1866. Der Magistrat: Bürgermeister Schmidt.“ Über die Ausgleichszahlungen brach nun im folgenden eine heftige Auseinandersetzung zwischen den Magistraten in Suhl und Schleusingen einerseits und der Landesregierung andererseits aus. Letztere nämlich wollte nur für etwa die Hälfte der Schadenssumme aufkommen bzw. Ersatz leisten, wogegen Schmidt und sein Amtskollege aus Schleusingen „beschlossen, Höheren, ja Allerhöchsten Ortes gegen die Minister-Entscheidung vorstellig zu werden.“ Ihr Hauptargument: Bei 30 Millionen Gulden Kriegskontribution, die Bayern an Preußen zu leisten hatte, sollte es doch möglich sein, die rund 12.000 Taler Schadenersatz an den Kreis Schleusingen zu zahlen. Aber obwohl eine „Deputation“ deswegen sogar nach Berlin reiste, um den Forderungen aus der Provinz etwas Druck zu verleihen, blieb der Staat hart. Mit Erlaß vom 14. Oktober, also eineinviertel Jahre nach der „bairischen Bierreise nach Thüringen“, gab die Regierung in Erfurt lediglich ca. zwei Drittel der beanspruchten Summe, genau: 8.183 Taler, 7 Groschen und 1 Pfennig , als Schadenersatz frei - der Finanzminister hatte gesiegt. Und zum Schluß noch ein Detail, das den geneigten Leser vollends an unsere heutigen Verhältnisse erinnern wird: Auch der Landrat Herold hatte während der Invasion Auslagen, die er sich auch brav hatte quittieren lassen und die er jetzt von seinem Brötchengeber im Öffentlichen Dienst ersetzt haben wollte. Sein Pech: Schmiedefeld, von wo er bekanntlich seine Aufklärungsergebnisse tapfer „nach oben“ gemeldet hatte, lag außerhalb des Kreises Schleusingen, folglich hatte er auch keinen Anspruch auf Kostenerstattung. Herold der Penible blieb auf seinen 10 Talern sitzen!

 

Dr. Thomas Müller